Brief des VBK Leipzig

an den Kulturminister 

Sehr geehrter Herr Minister Hoffmann,
Besorgnis über die Entwicklung unseres Landes zwingt uns zu diesem Schreiben.
Wir, Künstler der freien und angewandten Bereiche und Kunstwissenschaftler des Bezirkes Leipzig, erleben in unserer täglichen Arbeit die sich in jüngster Zeit angestauten Widersprüche besonders deutlich. In Ausstellungen, bei Ausstellungsgesprächen und öffentlichen Foren treten sie uns entgegen und wir müssen uns zu ihnen verhalten. 

Unsere Partner, wie die örtlichen Staatsorgane, die Industrie, verharren teilweise in Hilflosigkeit und Ignoranz, sind durch staatliche Vorgaben oder ökonomische Zwänge unfähig, auf die anstehenden Fragen befriedigend zu antworten bzw. Angebote der Bevölkerung aufzunehmen und produktiv umzusetzen. 

Aus all diesen Erfahrungen heraus meinen wir, daß es höchste Zeit geworden ist für strukturelle Veränderungen, für Demokratie, für Neues Denken auch in der DDR, denn wir wollen ebensowenig wie Michail Gorbatschow, daß der Sozialismus als tragischer Irrtum in die Geschichte der Menschheit eingeht. 

Wir erwarten von Ihnen als unseren Minister, daß Sie Ihre Verantwortung wahrnehmen und alles Ihnen Mögliche tun, um mitzuhelfen, unsere Gesellschaft aus der entstandenen, beängstigenden Stituation herauszuführen. Menschen, die hier aufgewachsen sind und auf die wir nicht verzichten können, dürfen nicht weiter massenhaft ihre Heimat verlassen. Sie müssen durch reale Veränderungen begreifen, daß sie hier eine echte Lebensmöglichkeit haben. 

Öffentliche und persönliche Gespräche zeigen uns immer wieder, wie viele Menschen noch immer bereit sind, gegen die sich verheerend ausbreitende Gleichgültigkeit, Resignation und Verantwortungslosigkeit anzugehen, wie viele konstruktive Gedanken für die Weiterentwicklung des Sozialismus in unserem Land geäußert werden. Gedanken, die nicht bequem sind, die kritisch nach einem DDR-eigenen Weg suchen, ohne der Ideologie westlicher Konsumgesellschaften hinterherzulaufen. 

Leider werden solche schöpferischen Aktivitäten von den Verantwortlichen nicht ernst genommen. Im Gegenteil: sie werden mißtrauisch registriert, oft als Angriffe auf die eigene Person gemünzt. Oppositionelle Haltungen werden durch den Verdacht der Sozialismusfeindlichkeit kriminalisiert. Gegen solche Praktiken verwahren wir uns entschieden. 

Presse und Medien schweigen dazu oder bringen – wie so oft – verzerrende Darstellungen, die der Situation, der Realität nicht entsprechen. Wirklichkeit, wie sie für jeden täglich erlebbar ist, muss sich wahrheitsgemäß und kontrovers diskutiert in allen unseren Medien widerspiegeln. 

Diese Gesellschaft braucht die Gedanken eines Jeden. Der offene Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften ist endlich in Gang zu setzen. Wir brauchen neue gesellschaftliche Strategien, in denen auch der Anteil der Künstler und Geistesschaffenden auf neue Weise bestimmt wird. 

Die Künste dürfen nicht wieder zur Dekoration für herrschende Ideen verkommen, ihr kreatives Potential muß sich voll für die Gesellschaft entfalten können. Es gilt, den wachsenden Kulturverfall, dem Zusammenbruch unserer Städte, dem unverantwortlichen Umgang mit der Natur offensiv entgegenzutreten. 

Doch dazu ist politisches Vertrauen nötig. Und das kann nur entstehen, wenn dem Machtmißbrauch vorgebeugt wird, wenn die Kultur des Streites, wenn Toleranz und Meinungsvielfalt täglich praktiziert werden. Nur dann wird das Gebrauchtwerden von Kunst und Kultur keine Phrase mehr sein, die Kunst nicht zum Feigenblatt für den Niedergang der Alltagskultur herhalten müssen. 

Wir bitten Sie, all die Angebote, die aus Sorge um die Perspektive unseres Staates gemacht werden, anzunehmen. Nur so können Wege gefunden werden, die aus der gegenwärtigen Krise herausführen. 

Verband Bildender Künstler der DDR
Bezirksverband Leipzig 

Im Auftrag des Sekretärs der Bezirksvorstandes und der Sektionsleitungen Malerei/Grafik, Gebrauchsgrafik, Kunsthandwerk, Formgestaltung, Karrikatur/Pressezeichnung, Plastik, Kunstwissenschaft und Szenografie. 

Prof. Frank Neubauer - Bezirksvorsitzender
Dr. Ina Gille - Stellvertreterin
Prof. Dietrich Burger - Stellvertreter
Klaus Ebermann - Stellvertreter

Zur Kenntnisnahme:
Prof. Kurt Hager – ZK der SED
Dr. Dietmar Keller – Staatssekretär im Kulturministerium
Dr. Kurt Meyse – SED-Bezirksleitung Leipzig
Prof. Clauss Dietel – Präsident VBK
alle Bezirksvorstände des VBK


----

Der obige Text ist eine Abschrift eines Aushangs, 
der nach dem 7. Oktober 1989 am schwarzen Brett 
der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zu lesen war.