Offener Brief

an die DDR-Partei- und Staatsführung 
verfaßt von den Studierenden der künstlerischen Hochschulen Leipzig 

Oktober 1998

Wir, die Unterzeichner des offenen Briefes, sind zutiefst beunruhigt über die derzeitige politische und ökonomische Situation in unserem Land. Es liegt auf der Hand, daß der große Auswanderungsstrom vieler DDR-Bürger nicht allein mit Abenteuerlust und Verblendung durch BRD-Medien zu erklären ist, sondern sich auf schwerwiegende innenpolitische Probleme und Widersprüche zurückführen läßt. 

Wichtig ist unser Erachtens, daß wir lernen, über die Probleme und Widersprüche offen zu diskutieren. Ignoranz und Verharmlosung würden ein Anwachsen bzw. Verschärfen der derzeitigen Situation bedeuten. Ein Nichtaufarbeiten der bestehenden Probleme leistet einer Entwicklung von rechtsorientierten, DDR-feindlichen Tendenzen Vorschub. 

Nur eine Gesellschaft, die ehrlich zu sich selbst ist und anstehende Schwachstellen und Fehler offen benennt und sich damit auseinandersetzt, ist in der Lage, geeignete Alternativen zur Lösung der Probleme und Widersprüche zu entwickeln. Dazu benötigen wir aber das Engagement aller gesellschaftlichen Kräfte in der DDR. Das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Meinungen zur Lösung der jetzigen Situation ist dabei ein Reichtum, den wir nicht achtlos verschenken sollten. 

Warum werden, ohne das öffentliche Gespräch zu suchen, Initiativen wie das „Neue Forum“ abgelehnt, als verfassungswidrig erklärt und damit kriminalisiert? 

Welche Möglichkeiten gibt es für uns auf die Situation in unserer Stadt konstruktiv eingehen zu können? Die letzten Ereignisse in unserer Stadt haben gezeigt, daß ein breites Bedürfnis der Bevölkerung an politischer Meinungsäußerung besteht, daß ihnen bisher nicht gegeben war. Es existieren seit mehreren Jahren verschiedene basisdemokratisch organisierte Gruppen. Die Staatsführung sollte dieses vielschichtige Engagement als Angebot annehmen. Es muß diesen Gruppen möglich sein, auch in der Öffentlichkeit zu arbeiten. 

Wir hegen mit diesem offenen Brief die Erwartung, daß einseitige Denkschemen und Vorurteile abgebaut werden und unser Anliegen eine positive Resonanz findet. 

Verteiler:
ADN, ND, ST, JW, FDGB, Fernsehen der DDR, Rundfunk der DDR,
ZK der SED, MfK, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen,
Staatsrat, Volkskammer, Schriftstellerverband, VBK,
VDI, FDJ, Theaterverband, MfS, MdI



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Der obige Text ist eine Abschrift eines Aushangs, 
der nach dem 7. Oktober 1989 am schwarzen Brett 
der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zu lesen war.